Teil 1/4
Eine fast unglaubliche Reise

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Wo kommt denn jetzt dieser Hund her?
Welcher Hund?
Na der hier. Peter zeigt auf eine chromblitzende, ja was ist das eigentlich, eine Reisekapsel? Drin sitzt tatsächlich ein Hund mit wachen Augen, der streng und ohne zu blinzeln zu ihnen rüberglotzt. Er ist braun und zwar von einem Braun, dass man sonst nur von Braunbären kennt.
Will der etwa mit?
Sieht so aus.
Dann braucht er einen Namen.
Wie wäre es mit Müntefering?
Weil er so streng guckt? Finde ich gut, ist aber zu lang. Nennen wir ihn Münte.
Kann’s losgehen, Münte? Der Hund bellt kurz, dreht sich in Fahrtrichtung und legt sich an die Stelle, wo, wenn das die Titanic wäre, Leo und Kate die von der Liebe leicht gewordenen Arme ausgebreitet haben. Ist aber nicht die Titanic, das hoffen wir jetzt zumindest mal zum Wohle der Besatzung. Sie machen die Leinen los und stechen in See, oder besser gesagt in den Neckar, das Meer ist noch weit.

Jetzt ist womöglich der Moment, um zu erklären, wer hier eigentlich nach wo womit und warum in See, also in den Neckar sticht.

Wir wollen ja niemanden verwirren, sondern lückenlos erzählen, was passiert ist, als Thorsten und Peter (womöglich der einen oder dem anderen bekannt als vor Stolz blinkende Geschäftsführer von netcare) sich in den Kopf gesetzt haben, mit einer schwer innovativen Reisekapsel, nämlich einem vollkommen neuartigen Elektroamphibienfahrzeug in die netcare-Filiale nach Chattanooga/Tennessee zu fahrschwimmen, um dort die Belegschaft rund um Beth und Maria mit einem Weihnachtsbaum, Mauldäschle und gutem schwäbischem Bier zu überraschen. Zuerst sollte es an die Nordsee gehen, dann rüber über den Atlantik und dann bei New York rein ins amerikanische Kernland. So jedenfalls war der Plan und, nun ja, wir wissen ja, was aus Plänen manchmal so werden kann.

Aber lesen Sie einfach selbst:

Zunächst einen Blick auf die chromblitzende Reisekapsel, auf die noch irgendwer mit Edding den Namen Chrompfeil 404 geschwungen hat. Sieht aus wie eine von Le Corbusier entworfene 60er-Jahre-Utopie und ist der allerletzte Schrei in Sachen Technikevolution. Also todschick und mit allem Hokuspokus ausgestattet, den man sich nur vorstellen kann. KI, VR, AR, Machine Learning, Autonomes Fahren, temperierte Getränkehalter, Sportlokus.

James-Bond-Autos nix dagegen.

Ein Prototyp, dessen Schlüssel ihnen, wieso, weiß nur der Mann im Mond, von einer Dame übergeben wurde, nennen wir sie Bernfriede Öschterle, die als Chefentwicklerin für die geheimsten Geheimprojekte bei einem der vielen illustren netcare-Kunden tätig ist. Welcher das ist, dürfen wir natürlich nicht sagen. Alles streng geheim.

Die Rucksäcke sind geschnürt, der Geschenkesack auch, der Weihnachtsbaum ist am Bug festgezurrt, die Gießkanne steht bereit.

Eigentlich wollten sie auf dem Neckar nur den üblichen Stau im Stuttgarter Talkessel vermeiden und den restlichen Weg bis zur Nordsee auf der Autobahn hinter sich bringen, aber am Ende haben sie sich der Bequemlichkeit halber für die Reiseromantik auf Deutschlands größten Wasserstraßen entschieden. So oder so, die Reise begann und der Dramatik halber wechseln wir nun in die Jetztzeit.

Das wird jetzt ein Weilchen dauern, sagt Peter, während sie einen munter vor sich hin sinkenden Stocherkahn passieren.

Dass der da sinkt, ist auf gar keinen Fall ein Omen, sagt Thorsten zu Münte, der ein wenig skeptisch vom sinkenden Stocherkahn zu den beiden Kapitänen und wieder zurückblickt.

Erhaben gleiten große und kleine Städte, hohe und tiefe Erhebungen an ihnen vorbei. Einmal rennt ein winkender nackter Mann am Ufer so lange mit ihnen mit, bis da kein Weg mehr ist und er ins Wasser fällt. Marbach, Heilbronn, Heidelberg. In Heidelberg steigen sie kurz aus, trinken einen Cappuccino (Münte muss mit einer Flasche Mineralwasser für 6 Euro Vorlieb nehmen, weil der Wirt behauptet, dass der Hahn rostet und der Hund von dem Wasser aus dem rostenden Hahn Halsweh bekommen würde) und fühlen sich gut. So viel frische Luft gab es lange nicht mehr.

Hoffentlich haben wir auf dem Atlantik ausreichend Empfang, sagt Peter. Ich will da zumindest den Tatortreiniger fertig gucken.
Ziemlich kurvig, der Neckar, sagt Thorsten, dem der Tatortreiniger egal ist. Zum Glück haben wir gut gefrühstückt.

So, rein in den Rhein, das wollte ich schon immer mal sagen, sagt Peter in Mannheim und dankt dem Neckar für die angenehme Reise bis hierher.

Dort wo alle singen und lachen, also in Mainz, fällt Peter auf, dass man mit einem kleinen Schlenker über den Main schnell in Frankfurt wäre, wo es sich mit der dortigen netcare-Belegschaft herrlich Handkäs mit Musik schnabeln ließe.
Machen wir, sagt Thorsten und stellt das Navi neu. Am Städelmuseum binden sie das Amphibienfahrzeug an einen Pfahl und lassen sich von einer Fahrradrikschafahrerin nach Bockenheim zum netcare-Loft fahren. Peter hat den Schlüssel, sie treten ein, aber keiner achtet auf sie.

Überall fliegen Einsen und Nullen durch die Gegend, das ganze Loft ist voller Bildschirme, an den Wänden hängen mit kryptischen Formeln vollgeschriebene Whiteboards und direkt neben Thorsten grast eine kleine Ziege am einzigen Blumentopf.

Äh, Grüß Gottle, ruft Peter in den Raum.
Pizza einfach auf den Boden legen, ruft’s aus dem Hintergrund zurück. Niemand hebt den Kopf. Alle tippen wie die Verrückten auf ihren Tastaturen herum.
Hallooo, es gibt keine Pizza, versucht sich Thorsten. Wir sind’s. Er breitet die Arme aus, um seinen Worten mehr Wirkung zu verleihen.
Keine Pizza? Menno, grummelt irgendeiner. Sonst passiert nichts. Alle arbeiten weiter und zuppeln dabei wild mit den Füßen. Zu hören sind nur die klappernden Tastaturen und das Brummen aus dem Serverraum.
Thorsten, Peter und Münte schauen sich an, zucken mit den Schultern, drehen sich um und sind froh, dass unten noch die Rikschafahrerin wartet.
Nix, Mittagspause, sagt die aber und so geht’s mit der U-Bahn zum Städel, von dort im Chrompfeil 404 über den Main zurück zum Rhein und unsere Freunde sind wieder auf Kurs.

Sie kommen gut voran und schon bald wartet der romantische Teil des Rheintals auf sie. Die Loreley, überall schief in die Berge gemeißelte Burgen, die Amphibienfahrzeugbesatzung ist ganz beseelt von all der Schönheit.

Bei Koblenz winken die Rheintöchter, vielleicht sind es auch drei Tannen, und es sieht fast so aus, als würde das Gold des Rheins hinter ihnen in den Wolken blinken. Ist dann aber doch nur die Sonne.

Grüßt euch Wellgunde, Floßhilde, Woglinde, ruft Peter.
Kennst du die?, fragt Thorsten.
Geht so, sagt Peter, aber irgendwo da oben steht ein alter Baum. In seinem Schatten entspringt die Quelle der ewigen Weisheit. Scheint‘s hat schon lange keiner mehr draus getrunken, grinst er.
Ah, war da nicht auch was mit goldenen Äpfeln und ewiger Jugend und so?
Ja stimmt.
Vielleicht sollten wir kurz nachsehen. Weisheit und ewige Jugend, das kann man ja eigentlich immer gebrauchen.

Es wird angelegt, um den Schätzen des Nibelungen auf die Spur zu kommen. Münte guckt wie immer streng, schließt sich ihnen aber an. Eine Treppe führt bis kurz unter den Himmel. Schnaufend klettern sie in die Höhe und als sie oben angekommen sind, blickt ihnen ein sehr altes Ehepaar entgegen, dass direkt am Ende der Treppe auf einer Bank sitzt. Peter und Thorsten ziehen die Bäuche ein, gucken sportlich, atmen gelassen und brechen erst zusammen, als sie um die nächste Ecke und außer Sichtweite der beiden sind.

Ich brauche einen goldenen Apfel, pustet Peter.

Aber da oben gibt es dann überhaupt keine Früchte. Auch keine Quelle. Sie suchen überall, aber außer einem Gipfelkreuz aus Bierdosen und einer schnell hinter einem Stein verschwindenden Blindschleiche finden sie nichts. Auch keine Wallküren oder Siegfriede oder Brunhildes oder die Summe der Intelligenz der Gegenwart, also Chefgott Wotan höchstpersönlich. Dafür ist der Blick schön. Der Rhein schlängelt sich bis zum Horizont, beziehungsweise bis zum nächsten Weinberg und glitzert in der Sonne.
Deutschland, das Land der Tester und Coder, flüstert Peter ergriffen und blickt vom Biergipfelkreuz über die Hügelketten.
Einen Versuch war‘s wert, sagt Thorsten. Lass uns weiterfahren.

Unten am Boot aber: eine riesige Menschenmenge. Außerirdische, ganz klar, sagt einer.

Irgendwas aus Area 51, ein anderer.
Area wat?, sagt der eine?
Na, der Ort da in der Wüste, wo die Amis die ganzen Raumschiffe und Sachen verstecken, von denen keiner wissen darf.
Woher weißt du dann davon?
Aus‘m Internet natürlich.
Peter, Thorsten und Münte bahnen sich ehrfürchtig begafft ihren Weg und machen die Leinen los.
Wat denn, das sollen Außerirdische sein? Die sehen doch aus wie wir?!
Weil das Körperwandler sind, ganz klar.
Die Menge bleibt staunend zurück. Der Elektromotor surrt zuverlässig vor sich hin und Holland ist nicht mehr weit.

Derweil in der netcare-Zentrale:

Sie ist weg.
Wer ist weg?
Na, schau halt.

Liliane, die Herrin der Zahlen, deutet mit panikgeweiteten Augen auf die leere Stelle, wo bisher die Cappuccino-Maschine stand und wo jetzt nur noch ein neongelbes Post-it klebt. Dankeschön ist darauf zu lesen. Daneben hat jemand einen Smiley gemalt.
Wenigstens war er höflich. Oder sie.
Oder es!
Es?
Außerirdische, sagt Liliane bestimmt.
Und was machen wir jetzt?
Wir holen uns die Maschine natürlich zurück. Was um alles in der Welt sollen wir denn ohne Cappuccino machen?!

Ein paar Minuten später waren die Verdächtigen bestimmt. Alle Mitarbeitenden, alle, die Zugriff auf den Schlüsselschrank der Mitarbeitenden haben, die Hausmeisterin, der Reinigungsmann, die Außerirdischen, die Kundinnen und Kunden, die zum Kuchenessen da waren. Die Steuerberaterin. Der Eismann. Der Weihnachtsmann. Alles in allem ein paar Tausend.

Das war bestimmt der Weihnachtsmann, sagt Florian und bewegt dabei elegant die Zehen in seinen der Zeit vorauseilenden Zehenschuhen. Der muss doch todmüde sein bei seinem Pensum. Der hat die Maschine gesehen und sich gedacht: Die hält mich wach in den anstrengenden Tagen. Jetzt ist er topfit beim Ruteschwingen und böse Kinder bestrafen und wir stehen blöd da.
Wie soll das der Weihnachtsmann gewesen sein, wenn es ihn gar nicht gibt, wird aus dem Hintergrund gerufen.
Oder die Spatzen haben das Ding davongetragen, sagt Chris von der Darkmetal-Band Antichris, mit der er, wovon er noch nichts weiß, bald Hotelzimmer-verwüstend und allseits bewundert und bigger-than-life-berühmt um die Welt touren wird, nur nicht an Weihnachten. Die Band liebt Weihnachten unter’m Chrisbaum. Die Spatzen waren es, sagt der Star in spe. Weil die Maschine so schön blinkt. Stark genug sind sie ja, die kleinen Piepkollegen, mit den ganzen Meisenknödeln im Bauch, die sie bei uns serviert bekommen.
Nirgends haben es die Spatzen so gut wie bei uns, sagt jemand anderes. Da beklauen die uns doch nicht. Außerdem sind doch die Elstern die Diebe unter den Vogelsleuten.
Und wer war‘s dann?
Alle denken angestrengt nach und große Ratlosigkeit macht sich breit.

Ja, wer war es dann?

Teil 2 kommt nächsten Montag. In der Wartezeit bitte keine Fußnägel kauen oder in unser Intranet einbrechen: Die Geschichte befindet sich auf einem Offline-Stick in einem wahnsinnig gut gesicherten Tresor an einem noch viel wahnsinniger gesicherten Ort in einer anderen Dimension, bewacht von einäugigen Riesinnen.